„Beinahe allgemein geworden“ – Düngemittelplomben als agrargeschichtliche Quelle

04.04.2024 Kai Niederhöfer

Im 19. Jahrhundert veränderten sich Wirtschaft und Gesellschaft in Europa durch die industrielle Revolution ganz grundlegend. Diese Veränderungen machten sich auch in der Landwirtschaft bemerkbar. Man spricht auch von einer Agrarrevolution, zu deren Merkmalen unter anderem eine bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts einsetzende Steigerung der Flächenproduktivität im Ackerbau gehört. Im 19. Jahrhundert wurden schließlich mineralische Düngemittel zur Ertragssteigerung eingeführt, nachdem der Chemiker Justus von Liebig um 1840 die wachstumsfördernden Effekte von Stickstoff, Phosphat und Kalium entdeckt hatte.

Als archäologische Hinterlassenschaften von Liebigs‘ Erkenntnissen kann man heute noch vielerorts Düngemittelplomben aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. Ein interessantes Konvolut solcher Plomben lieferte im Jahr 2023 der lizensierte Sondengänger Thorsten Kloppenborg von einem Acker in Steinfurt-Borghorst bei der LWL-Archäologie für Westfalen ein. Die Stücke geben Auskunft, was vor 100 bis 150 Jahren neben den sogenannten wirtschaftseigenen Düngern wie Mist, Jauche oder Gülle bereits an industriellen Düngemitteln zur Ertragssteigerung verwendet wurde.

Im Jahr 1862 stellte der Landwirtschaftliche Gesamtverein für Rheinpreußen (also die im Westen und Südwesten an Westfalen angrenzende preußische Nachbarprovinz) eine „beinahe allgemein gewordene Verwendung von Guano, Chilisalpeter [gemeint ist Salpeter aus Chile] und besonders von Knochenmehl und dessen Präparaten“ fest. Darüber hinaus wird der Einsatz von Phosphoriterzeugnissen wie Phosphorguano und verschiedenen Superphosphaten erwähnt, die als „Hilfsmittel […] den Landwirthen sehr zur Beachtung und zu Versuchen zu empfehlen sind.“ Die Funde vom Borghorster Acker zeigen, dass es im nördlichen Münsterland offenbar ganz ähnlich gehandhabt wurde:

Abb. 1: Markenzeichen auf den Düngerplomben aus Borghorst: 1. Füllhorn; 2. Hammer und Schlägel; 3. Stern mit Umschrift „STERNMARKE“; 4. Löwe; 5. Umschrift „AUFGESCHLOSSENER PERU GUANO – GEHALT GARANTIERT“ (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Rzitki / Bearbeitung: LWL-Archäologie für Westfalen/K. Niederhöfer).

Viele der identifizierbaren Plomben tragen als Warenzeichen ein Füllhorn als Sinnbild für einen reichen Ernteertrag (Abb. 1,1). Sie stammen von der Hamburger Firma Ohlendorff & Co. (Abb. 2,5) und deren Nachfolger, der Anglo-Continentale (vormals Ohlendorff’sche) Guano-Werke AG (Abb. 2,1). Der 1858 durch Albertus und Heinrich Ohlendorff gegründete Betrieb hatte 1869 das Verfahren des „Aufschließens“ von Guano mittels Schwefelsäure entwickelt. Ursprünglich zur Behandlung von seewassergeschädigten Guano erdacht (der Dünger wurde per Schiff aus Südamerika importiert), nutzte man diesen chemischen Prozess später generell zur Steigerung der Düngerqualität. Ab 1883 ging Ohlendorff & Co. in die Anglo-Continentalen Guano-Werke über, deren wirtschaftlicher Erfolg Albertus und Heinrich Ohlendorff 1888 die Erhebung in den preußischen Freiherrenstand und als unmittelbare Folge bei der Hamburger Bevölkerung den spöttischen Titel „Schietbaron“ einbrachte. Zu Jahresbeginn 1927 fusionierte man mit anderen Düngemittelfabriken zur Guano-Werke AG (vormals Ohlendorff’sche und Merck’sche Werke). Aus Borghorst stammen sowohl eine Plombe des ältesten Betriebs, die mit der Aufschrift „Aufgeschlossener Peru Guano“ (Abb. 1,5) auf das seit 1869 verwendete Verfahren hinweist, als auch mehrere Exemplare aus der Zeit zwischen 1883 und 1926.

Eine Plombe ist der Rotterdamer Firma M. H. Salomonson Chemische Fabrieken (Abb. 2,4) zuzuordnen, die u. a. im südholländischen Capelle aan den Ijssel ein Düngemittelwerk betrieb. Warenzeichen ist ein liegender Löwe (Abb. 1,4). Zwischen Ohlendorff und Salomonson hatte sich gegen Ende der 1870er-Jahre ein erbitterter Konkurrenzkampf entwickelt, denn in Werbeannoncen dieser Zeit nehmen beide in Anspruch, alleiniger von der peruanischen Regierung autorisierter Hersteller bzw. Importeur von Guanodünger für bestimmte, sich aber z. T. überschneidende Regionen zu sein und warnen zugleich vor der Konkurrenz. Die Fabrik in Capelle bestand seit mindestens 1875 und stellte auch Superphosphat her, das durch Aufschließen von wasserunlöslichen Phospaten mittels Schwefelsäure entsteht. Seit 1895 firmierte man unter der Bezeichung Centrale Guanofabrieken und war einer der größten niederländischen Düngerproduzenten.

Abb. 2: Herstellerangaben auf den Düngerplomben aus Borghorst: 1. Anglo-Continentale (vorm. Ohlendorffsche) Guano-Werke; 2. Deutsches Kali-Syndikat; 3. Hoerder Bergwerks- und Hüttenverein; 4. M. H. Salomonson, Capelle a. d. Yssel by Rotterdam; 5. Ohlendorff & Co. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Rzitki / Bearbeitung: LWL-Archäologie für Westfalen/K. Niederhöfer).

Die Entwicklung in der Düngemittelindustrie schritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts rasch voran. Ende der 1870er-Jahre entdeckt und im Winter 1882/83 in Deutschland erstmals als Dünger verwendet, gewann Thomasphosphat (auch als „Thomasmehl“ bekannt) als günstige Alternative zu den aus Übersee importierten Salpeter und Guano zunehmend an Bedeutung. Die phosphathaltige Schlacke, ein Abfallprodukt der Thomasstahlerzeugung, konnte in gemahlenem Zustand als Dünger verwendet werden. Vertrieben wurde Thomasphosphat u. a. vom Verein Deutsch-Österreichischer Thomasphosphatfabriken unter der sogenannten „Sternmarke“. Der fünfstrahlige Stern mit zentralem Punkt (Abb. 1,3) ist seit Ende des 19. Jahrhunderts als Markenzeichen bekannt. Eine der Borghorster Plomben stammt vom Hörder Bergwerks- und Hüttenverein (Abb. 2,3), der Mitglied dieser Industrievereinigung war. Seit 1880 stellte man in Dortmund-Hörde Thomasstahl her. Ab 1926 ging der Betrieb in der Vereinigte Stahlwerke AG auf.

Neben Guano, Super- und Thomasphosphat düngte man in Borghorst auch mit Kalisalz. Davon zeugen mehrere Plomben mit Schlägel und Eisen (Abb. 1,2), einem bergmännischen Symbol, und umseitig dem Kürzel „D.K.“ (Abb. 2,2). Dahinter verbirgt sich das Deutsche Kalisyndikat, das bereits 1888 als Zusammenschluss der Eigentümer der damals sieben Kalisalzwerke in Staßfurt-Leopoldshall (Sachsen-Anhalt) gegründet und 1910 als Kalisyndikat GmbH nach Berlin verlegt wurde. Ab 1919 entstand ein Zwangssyndikat, die Deutsche Kalisyndikat GmbH, dem alle deutschen Kalisalzproduzenten beitreten mussten und das erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten aufgelöst wurde. Die Plomben mit dem Kürzel „D.K.“ ohne weitere Beischrift dürften aus der Zeit des Zwangssyndikats stammen.

Die hier vorgestellten Plombenfunde aus Steinfurt-Borghorst spiegeln, wenn auch nur ausschnitthaft, sehr anschaulich die eingangs beschriebene Agrarrevolution im 19. Jahrhundert und die „allgemein gewordene“ Verwendung von industriell hergestelltem bzw. aufbereitetem Dünger. Sie bieten auf diese Weise einen Einblick in die Agrargeschichte dieser Zeit, den man den unscheinbaren Fundstücken auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte.

Text: Dr. Kai Niederhöfer