Solche Tuchplomben treten vermehrt seit dem 16./17. Jahrhundert auf, es gibt aber auch Exemplare, die schon aus dem Mittelalter stammen. Sie dienten als Herkunfts- und Qualitätsnachweis und wurden nach der Tuchbeschau durch landesherrliche und städtische Kontrollorgane oder durch Vertreter der örtlichen Tuchmacher- und Weberzünfte angebracht. Ungesiegelte Tuche waren auf frühneuzeitlichen Märkten nicht zu vermarkten, entsprechende Kennzeichnungen für den Textilhandel daher obligatorisch.
Aus technischer Sicht bezeichnet man solche Siegel als Stiftplomben. Die Rohlinge bestehen aus zwei mit einem Steg verbundenen Scheiben. Eine der Scheiben ist durchlocht, die andere mit einem Stift versehen. Sie wurden aus Blei gegossen, das als verhältnismäßig weiches Metall leicht deformiert und daher einfach am Stoff angebracht und gestempelt werden konnte. Dazu schnitt man das Gewebe nahe der Webkante ein, führte den Stift der einen Scheibe durch den Schnitt, bog den Steg um die Webkante um und drückte die durchlochte Scheibe auf den Stift. Anschließend verpresste man die Plombe und schlug auf beiden Seiten mittels eines Stempels eine Kennzeichnung ein oder presste diese mit einer Prägezange in die Scheiben. Stift und Stiftloch gingen durch die Verformung des Materials eine Einheit ein, die nur durch Zerstören der Stoffbahn, also durch Herausschneiden der Plombe, oder durch Zerstören der Plombe selbst wieder gelöst werden konnte.
Auf Tuchplomben finden sich in der Regel Stadtwappen oder andere aussagekräftige Symbole, aus denen die Herkunft des Stoffes hervorgeht. Darüber hinaus wurden häufig auch Qualitätsangaben gemacht. Aufgrund des guten Erhaltungszustandes sind diese Angaben auch auf dem Borghorster Exemplar zu erkennen:
Die Vorderseite zeigt einen Wappenschild mit zwei gekreuzten Schlüsseln – das Wappen der niederländischen Stadt Leiden, dazu die Umschrift „LEY[DEN]“. Leiden war vor allem im 17. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum der europäischen Textilindustrie. Seit Ende des 16. Jahrhunderts zog es viele qualifizierte Textilhandwerker dorthin, die während des Achtzigjährigen Krieges (1568-1648) als Protestanten aus Flandern und den südlichen Niederlanden hatten fliehen müssen. Ihr Fachwissen bescherte der Stadt einen Aufstieg zu einem der führenden Zentren der Tuchherstellung. Leidener Stoffe breiteten sich aufgrund ihrer hohen Qualität und der sprichwörtlichen Geschäftstüchtigkeit niederländischer Händler rasch auf den europäischen Märkten aus. Aus dieser Zeit stammt auch das Fundstück aus Borghorst. Neben seiner Herkunft gibt es Informationen zum Tuch preis, an dem es einst befestigt war. Die Rückseite ist mit einem Doppeladler (nach Schriftquellen ein Zeichen für eine hohe Stoffqualität) und darüber der zweizeiligen Angabe „SAT TYNE“ gestempelt.
Es handelte sich also um Satin oder zumindest einen in Satinbindung hergestellten Stoff. Diese, auch unter der gebräuchlicheren Bezeichnung Atlasbindung bekannte Webart ist neben der Leinwand- und der Köperbindung eine der Grundbindungen der Tuchherstellung. Durch die Atlasbindung entstehen gleichmäßige und glatte Oberflächen und eine, durch die im Vergleich mit den anderen Grundbindungen höhere Fadendichte, höherwertige Stoffqualität mit schmiegsamen und glänzenden Stoffen, wie z. B. Damast oder eben Satin.
Wie die Plombe letztlich auf den Borghorster Acker gelangt ist, bleibt ein Geheimnis. Sie muss von einem Schneider stammen, dessen im wahrsten Sinne des Wortes „gut betuchte“ Kundschaft sich hochpreisige importierte Textilien dieser Art leisten konnte.
Der Fund zeigt uns vor allem, wie wichtig auch auf den ersten Blick unscheinbare Objekte für die Forschung sein können. Die Leidener Tuchplombe ist ein wichtiger wirtschaftshistorischer Fund, der ein Streiflicht auf die Handelswege der niederländischen Textilindustrie des 17. Jahrhunderts wirft. Er zeigt damit das Potential, das in immer noch wenig beachteten frühneuzeitlichen Sondenfunden steckt.
Text: Dr. Kai Niederhöfer