Letzte Ruhe an der Westfälischen Pforte – Ein Grab der Michelsberger Kultur am Weserdurchbruch

22.09.2025 Eva Johannhörster

Nicht-megalithische Langhügel – älter als die Großsteingräber

Zu den frühesten Grabmonumenten gehören in weiten Teilen Europas keineswegs die heute noch die Landschaft prägenden steinernen Megalithgräber, sondern mit Erde bedeckte nicht-megalithische Langhügel, die im 5. und 4. Jahrtausend v. Chr. ganz ohne große Steine errichtet wurden. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Frankreich über Dänemark bis nach Polen und Tschechien, wobei zwischen dem Pariser Becken und dem Mittelelbe-Saale-Gebiet lange Zeit eine große zeitliche wie auch räumliche Lücke bestand, sodass angenommen wurde, dass beiden Langhügel-Traditionen verschiedene Ursprünge zugrunde lagen. Ein vor wenigen Jahren entdeckter nicht-megalithischer Langhügel bei Porta Westfalica-Lerbeck vermag diese Lücke nun zu schließen.

Mit Sorgfalt wird das umlaufende Gräbchen der Grabeinhegung im Negativ ausgegraben (Foto: Archäologische Ausgrabungen + Bauprojekt Betreuung/Jasmin Rüdiger).

Eine besondere Topografie …

Die Westfälische Pforte – also die Porta Westfalica – ist der Durchbruch der Weser zwischen Wiehengebirge und Wesergebirge im nordöstlichen Ostwestfalen-Lippe. In diesem markanten Durchbruch verlässt die von Süden kommende Weser das Weserbergland und fließt Richtung Norden in die angrenzende Norddeutsche Tiefebene. Damals wie heute muss die Westfälische Pforte sicherlich ein beeindruckendes Landschaftsgebilde gewesen sein: Im Westen erstreckt sich das Wiehengebirge wie ein gewaltiger Damm und im Osten ragt das Wesergebirge aus der Ebene. Mitten hindurch fließt die Weser, die hier breit und in weiten Schleifen mäandrierend ihren Weg durch einen nur etwa 600 m breiten Einschnitt findet.

 

Blick über die Grabungsfläche in Richtung Wesergebirge (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/Andreas Wibbe).

Etwa 1 km östlich der Weser liegt am nördlichen Ausläufer des Wesergebirges Porta Westfalica-Lerbeck. Im November 2020 wurde hier der Neubau einer Logistikhalle geplant, der eine großflächige Ausgrabung notwendig machte. Auf gut 19 000 m² konnten von November 2020 bis Mai 2021 rund 455 archäologisch relevante Befunde durch die Grabungsfirma Archäologische Ausgrabungen + Bauprojekt Betreuung unter der Fachaufsicht der Außenstelle in Bielefeld der LWL-Archäologie für Westfalen untersucht werden.

Das Planareal war durch starke Erosionsprozesse geprägt, die sich deutlich in der Stratigrafie des Fundplatzes sowie in der Befundverteilung und der Erhaltungstiefe widerspiegelten. Besonders im nördlichen Areal waren die Befunde unter kolluvialen Sedimenten von bis zu 1m Mächtigkeit gut erhalten. Darunter ist der in Westfalen bislang einzigartige Befund einer jungsteinzeitlichen Langgrabenanlage besonders hervorzuheben.

 

Drohnenbild des Michelsberger Langhügels (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/Andreas Wibbe).

… ein besonderer Befund …

Die Gesamtlänge der Nordwest–Südost ausgerichteten, langovalen bis trapezförmigen Grabanlage betrug annähernd 12,40 m bei einer Breite von 1,95 m bzw. 3 m. Die längere, östliche Schmalseite wurde durch eine schmale Erdbrücke unterbrochen. Das umlaufende Gräbchen war U-förmig und ließ keine Einbauten in Form von Pfosten oder Bohlenstandspuren als Reste einer zusätzlichen Hügeleinfriedung erkennen. Die in Ausrichtung der Grabeinhegung folgende ovale Grabgrube maß ca. 2,70 m × 1,40 m. Nach der Entnahme der Grubenverfüllung zeichnete sich die Kontur einer etwa 1,95 m × 0,80 m großen kammerähnlichen Struktur ab. Die senkrechten Grubenwände sowie eine rötlichbraune Verfärbung entlang der Befundgrenze deuten auf eine hölzerne Auskleidung der Grabgrube hin. Am östlichen Ende fanden sich Reste einer mit Asche und Holzkohlepartikeln durchsetzten Schicht, die möglicherweise im Zusammenhang mit dem Bestattungsritual stand. Das Individuum wurde in gestreckter Rückenlage mit dem Kopf im Westen beigesetzt. Hierauf verweisen die noch erhaltenen Reste der unteren Extremitäten sowie Reste des Schädels und des Unterkiefers. Eine anthropologische Begutachtung der Zahn- und Kieferreste wurde durch Dr. Birgit Großkopf in Göttingen durchgeführt. Ein Zahn ist demnach bereits zu Lebzeiten ausgefallen, wie die Heilungsspuren am Kieferknochen zeigen. Da die Lücke zwischen den Zähnen deutlich erkennbar ist, muss der Zahn im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter verloren gegangen sein. Zu erkennen ist ebenfalls eine fortgeschrittene Abrasion der Zähne, die auf ein Sterbealter zwischen etwa 35 und 45 Jahren hinweist. Aussagen zum Geschlecht des Individuums lassen sich jedoch nicht treffen. Der Unterkiefer ist zwar eher robust und hoch, aber diese Merkmale sind für sich alleine nicht aussagekräftig genug. Die wenigen Grabbeigaben könnten jedoch auf ein männliches Individuum hindeuten.

Spitzklinge, langgestreckte Pfeilspitze, flächig retuschierte blattförmige Pfeilspitze und Querschneider aus der Grabgrube (Fotos: LWL-Archäologie für Westfalen/Alexandra Philippi).

… und besondere Grabbeigaben

Im Bereich des rechten Oberschenkels konnten eine langgestreckte Pfeilspitze und eine flächig retuschierte blattförmige Pfeilspitze mit konvexer Basis und konvexen Lateralseiten sowie ein Querschneider aus Flint geborgen werden, die – in Kombination mit einem vergangenen Bogen – möglicherweise zu einer Jagdausrüstung gehörten. Aus dem Grab stammen ebenfalls eine Spitzklinge, ein kantenretuschierter Abschlag, ein Kern, eine Klinge und ein Bohrer. Komplettiert werden die Beigaben durch einen nahezu vollständigen Tulpenbecher, der im Bereich des linken Fußes deponiert war. Tulpenbecher sind eine Leitform der sogenannten Michelsberger Kultur und treten in dieser Variante zwischen 4000 und 3800 v. Chr. in Erscheinung. Der rundbodige Becher ist rund 16 cm hoch und unterhalb des Randes mit einer Reihe kleiner, in den Ton eingedrückter Dreiecke verziert, die mit der Spitze nach unten weisen.

Stichverzierter Tulpenbecher (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/Corinna Hildebrand).

Entsprechungen findet das Gefäß in der Keramik der zeitgleichen und rund 50 km nordwestlich gelegenen Seeufersiedlung Hüde 1 am Dümmer See sowie im keramischen Fundmaterial des jungneolithischen Erdwerkes von Müsleringen an der Weser, das etwa 27 km flussaufwärts liegt. Hier lässt sich die Keramik zwischen 4100 und 3900 v. Chr. einordnen, sodass die Bestattung in Lerbeck etwa um 4000 v. Chr. datieren dürfte. Ganz ähnlich sind weitere Gefäße aus Niedersachsen oder von der südwestlichen Ostseeküste einzuordnen, die sich der frühen Trichterbecherkeramik um 4000 v. Chr. zuweisen lassen. Sie unterscheiden sich lediglich durch Standböden. Ähnliche Gefäßformen und Verzierungen findet man etwa zur selben Zeit auch in den Niederlanden während der Swifterbant-Kultur.

Aus Frankreich in die Welt – die Vorläufer der Megalithgräber

Die ältesten nicht-megalithischen Langhügel finden sich ab ca. 4800 v. Chr. in Frankreich. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt vor allem in der Bretagne und in der Nouvelle-Aquitaine sowie im Pariser Becken. Hier sind vor allem die Gräber vom Typ Passy der Cerny-Kultur im Seine-Yonne-Becken bekannt, die eine Länge von bis zu 350 m erreichen. Häufig kommen sie in fächerartig angeordneten Gruppen vor. DNA-Analysen zeigen, dass es sich bei den Bestatteten fast ausschließlich um Männer handelt, die mit Pfeilen, Köchern und möglicherweise auch Bögen begraben wurden. Belastungsmarker an den Skeletten weisen auf Bogenschießaktivitäten hin, sodass die Jagd vermutlich eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spielte.

Verbreitung der nicht-megalithischen Langhügel während des 5. und 4. Jahrtausends v. Chr. (verändert nach Müller 2017).

Weiter östlich, und deutlich später als die französischen Anlagen errichtet, liegen die Langhügel der Trichterbecherkultur, die vor allem in Dänemark, Schlesien, Kleinpolen, Kujawien und Mitteldeutschland ab ca. 3900 v. Chr. Verbreitungsschwerpunkte finden.

Das Grab von Lerbeck findet eine recht direkte Entsprechung in der Grabanlage von Beaurieux am rechten Ufer der Aisne etwa 35 km östlich von Soissons. Anders als bei den Gräbern vom Typ Passy handelt es sich um keine Nekropole, sondern um ein isoliertes Grabmonument. Das Monument stammt aus einer älteren Phase der Michelsberger Kultur und stellt sich als längliche, Ost-West orientierte Grabeinhegung dar, die mit 15,5 m Länge und einer Breite von max. 4 m ähnliche Maße aufweist wie Lerbeck. Der umgebende Graben ist im Profil ebenfalls U-förmig und Spuren einiger Pfosten zeigen, dass es sich um einen Palisadenzaun gehandelt hat. Innerhalb der Einhegung fanden sich zwei männliche Individuen, von denen jeder mit einer reichen Palette an Objekten eines Bogenschützen und Keramik der Michelsberger Kultur ausgestattet war.

Zwar ist das Grab in Beaurieux deutlich kleiner und später als die vergleichbaren Anlagen im Pariser Becken, doch zeigen Grabbau und -ausstattung ein Fortleben der Cerny-Tradition während der Michelsberger Kultur an.

Lange bestand zwischen den frühen französischen und den nordwesteuropäischen nicht-megalithischen Langhügeln eine chronologische und räumliche Lücke. Aus kulturhistorischer Sicht wurde daher eine klare Trennung zwischen der „Michelsberg“-Welt, die monumentale Grabenwerke errichtete, und den Gesellschaften mit „nicht-megalithischen Langhügeln“, die von Polen bis nach Dänemark zu beobachten sind, vorgenommen.

Diese Lücke vermag das Grab von Lerbeck aber nun zu schließen.

Symbol der Macht und Landmarke zwischen späten Wildbeutern und Pastoral-Nomaden?

Die nicht-megalithischen Langhügel des 5. und 4. Jahrtausends werden in der Forschung häufig mit einem „Häuptlingstum“ und frühen „Eliten“ in Verbindung gebracht, wozu auch das Grab von Lerbeck verleitet. Sicher ist jedoch, dass sie die ersten monumentalen Grabbauten darstellen und zusammen mit den großen Erdwerken Ausdruck einer sich verändernden Landschaft sind, die zunehmend mehr und mehr von den Menschen gestaltet wurde. Im Verlauf des 5. Jahrtausends ist dann auch eine verstärkte Regionalisierung größerer Keramikkomplexe wie etwa innerhalb von Bischheim oder Michelsberg festzustellen und es entwickeln sich gleichzeitig komplexe Siedlungshierarchien, die Ausdruck in den erstmals errichteten monumentalen Grabenwerken des Jungneolithikums finden. Für Westfalen ist in dieser Zeit ein verstärkter Ausgriff nach Norden zu beobachten, der insbesondere entlang der Flusssysteme und Altwege bis in das angrenzende niedersächsische Gebiet und in die Norddeutsche Tiefebene reichte, die bis dahin durch späte Wildbeuter besiedelt war. Entlang der Weser und im Hellwegraum scheinen sich die Erdwerke während des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrtausends wie auf eine Perlenschnur aufzureihen. Für den mittleren Weserraum lassen sich die erst in den vergangenen ca. 15 Jahren entdeckten, jungneolithischen Erdwerke von Müsleringen, Wellie, Minden-Meißen und Petershagen-Wietersheim anführen. Auf knapp 35 km erstreckt sich hier flussabwärts der Weser, beginnend mit dem Langgrab von Lerbeck, eine jungneolithische Siedlungslandschaft, die in spätmesolithische Siedlungsgebiete der Jäger-Sammler-Fischer-Gruppen reichte. Zur gleichen Zeit treten auch Prestigegüter wie Jadeitbeile und frühe Kupferobjekte auf, die als Indikator für die Existenz von komplexen gesellschaftlichen Organisationsformen angeführt werden können. Für den nördlichen ostwestfälischen Raum zwischen Teutoburger Wald und Wesergebirge lässt sich eine Häufung von Jadeitbeilen verzeichnen und auch für die sonst spärlich vertretenen frühen Kupferbeile sind mittlerweile zwei Exemplare von der Mittleren Weser bekannt. Ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. wurden Erdwerke und Langgräber im Laufe der Neolithisierung der Norddeutschen Tiefebene schließlich auch durch Träger der Trichterbecherkultur errichtet. Letztere wurden später oftmals zu Megalithgräbern umgebaut und es finden sich immer wieder frühe Kupferartefakte in den Gräbern oder in Deponierungen.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Michelsberger Grab von Lerbeck mit seiner offenkundig markanten topografischen Lage am Nordausläufer von Wiehen- und Wesergebirge unmittelbar am Weserdurchbruch – einer wichtigen Landmarke - nicht nur Ausdruck einer sich wandelnden sozialhierarchischen Struktur am Übergang vom 5. zum 4. Jahrtausend, sondern ein weithin sichtbares, von den Menschen der Michelsberger Kultur errichtetes Monument ist, das am Übergang von Mittelgebirgsregion zu Norddeutscher Tiefebene, also zwischen frühen Bauern bzw. pastoral-nomadisch lebenden Menschen der Michelsberger Kultur und den späten Jäger-Sammler-Fischern im Norden um 4000 v. Chr. eindeutig und weit sichtbar einen territorialen Anspruch markierte bzw. Ausdruck einer Art „Landnahme“ darstellte.

Das Grab von Lerbeck reiht sich in eine Reihe weiterer Attribute ein, die eng mit der Michelsberger Kultur verknüpft sind und mit ihrem Vorstoß im ausgehenden 5. Jahrtausend aus dem Pariser Becken heraus über weite Strecken transportiert wurden und schließlich um 4000 v. Chr. die Neolithisierung der Tiefebene beförderten. Hierzu zählen die Adaption von Keramikformen und –verzierungsweisen, Erdwerke, frühes Kupfer, Jadeitbeile und die Haltung von Haustieren, wobei auch hier Rinder eine wichtige Rolle spielten. Sozusagen das „Neolithische Paket“ für den Norden.

Deshalb ist der Langhügel von Lerbeck nicht nur Zeichen einer wie auch immer gearteten „Elite“, sondern auch im Hinblick auf gleichzeitige, regional geschiedene Gruppen – also Wanderweidewirtschaft praktizierende neolithische und in mesolithischer Tradition lebende Gruppen – zu verstehen. Naturwissenschaftliche Untersuchungen wie DNA- und Isotopen-Analysen werden künftig dazu beitragen, diese Kontakt- und Austauschnetzwerke besser zu verstehen.

 

 

Text: Alexandra Philippi

Kategorien: Außenstelle Bielefeld · Steinzeit

Schlagwort: Neolithikum