"Neues" zur alten Andreaskirche in Lübbecke

13.05.2024 Sandra Michalski

Außenansicht des Kirchturmes der Pfarrkirche St. Andreas von Nord. (Foto: LWL-AfW/M. Thede)

Aus (bau-)historischer Sicht stellt die heutige evangelische Pfarrkirche St. Andreas zweifelsfrei eine der interessantesten Kirchen (Ost-)Westfalens dar. Bekannt ist sie bis heute vor allem als zentraler Sakralbau des 1295 nach Lübbecke verlegten Kollegiatstiftes. Die ursprüngliche Stiftung dieses Konventes an der Pfarrkirche zu Ahlden an der Aller, heute ein Flecken im Heidekreis in Niedersachsen, erfolgte durch einen gewissen Reinhold („sacerdos rector ecclesie baptimalis in Aledhen“). Gleichzeitig wurde die dortige Kirche laut einer Urkunde Bischofs Otto von Minden 1274 zur Konventualkirche erhoben. Eine Bestätigung seitens Papst Nikolaus III. erfolgte 1278. Nur zwei Jahre später kam es bereits zu einer ersten Verlegung des Stiftes nach Neustadt am Rübenberge (Region Hannover, Niedersachsen) durch Volquin von Schwalenberg. Diese erfolgte auf ausdrückliche Bitte des Grafen Burchard von Wölpe unter Zustimmung seiner Brüder Bernhard und Otto, Pröpste zu Bremen und Minden. Ständige Streitereien zwischen den Grafen von Wölpe und dem Mindener Bischof führten schlussendlich 1295 zur finalen Verlegung nach Lübbecke, einer bischöflichen Stadt, welche diesem eine größere Kontrolle über das Stift, der Einrichtung aber zugleich auch entsprechenden Schutz bot. In diesem Zusammenhang wurde die ältere (Pfarr-)Kirche St. Andreas zur Konventualkirche erhoben und mit allen Rechten und Zubehör auf die Kanoniker übertragen. Verschiedene Liegenschaften des Stiftes entwickelten sich bis zu dessen Aufhebung 1810 sukzessive in deren Umfeld.

Die Existenz der Andreaskirche zu Lübbecke kann erstmals durch die Nennung eines „Hermannus vicarius de Lubbeche“, aufgelistet unter den Zeugen einer Mindener Bischofsurkunde vom 14. April 1233, erschlossen werden. Explizit findet sie in einer Urkunde („in ecclesia Lutbeke“) 1276 und unter Nennung des Patroziniums („ecclesia beate Andree“) 1279 Erwähnung. Hinsichtlich zweier Punkte herrschte in diesem Zusammenhang bislang in der Forschung Konsens: Zum einen, dass es sich bei dem in den letztgenannten Quellen erwähnten und dem Stift übertragenen „Ursprungsbau“ um eine romanische Saalkirche über kreuzförmigem Grundriss mit rechteckig abschließendem Sanktuarium gehandelt haben muss, zum anderen, dass dieser Bau zwischen 1160 und 1180 zu datieren ist.

Die immer wieder geäußerte These einer älteren (Holz-)Kirche am Standort der Andreaskirche machte man vor allem am hohen Alter Lübbeckes selbst fest, welches bereits 775 in den Quellen erscheint. Die Annahme, dass der früh genannte Ort Lübbecke schon mit der Christianisierung einen Sakralbau erhielt, erscheint auch in der Tat plausibel. Aber auch andere Aspekte flossen in die Theoriebildung ein. Zu nennen sind hier in erster Linie archäologische Erkenntnisse seit den 1920er- Jahren, die P. Klein-Walbeck 1950 in einem Aufsatz zum Kirchhof von St. Andreas bündelte. Neben einer über den bis heute erkennbaren Kirchring hinausgehenden Belegung des Friedhofes stand dabei vor allem ein Mauerrest im Zentrum der Betrachtung, den Klein-Walbeck als Apsis einer älteren Kirche deutete. Auch Lenk bediente die These eines Vorgängerbaus, allerdings in anderem Zusammenhang. Neben bauhistorischen Theorien standen dabei Erkenntnisse im Rahmen von Instandsetzungsarbeiten der Jahre 1927/28 im Mittelpunkt. Diese ließen demnach Rückschlüsse auf einen „Taufbrunnen“ unter der vormaligen Vierung sowie eine Krypta zu. Beide Autoren argumentierten aus eigener Anschauung bzw. (vornehmlich) auf Basis von „Berichten“ – eine Dokumentation im Zusammenhang mit den genannten Aufdeckungen erfolgte jedoch nicht. Lenk bilanzierte daher auch abschließend: „…endgültige Aufklärung (…) ob eine Kirche noch vor (…) 1160-1180 bestanden hat, könnte man nur durch Ausgrabungen erlangen“.

Plan der Andreaskirche mit Eingriffsflächen und Befunden. Die dargestellten Bauphasen bilden den gegenwärtigen Kenntnisstand der Baugenese ab. (Grafik: LWL-AfW/M. Thede)

Seit 2019 begleitet das Fachreferat für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie im Rahmen einer umfassenden Sanierungsmaßnahme Bodeneingriffe im südlichen und westlichen Fundamentbereich von St. Andreas. Die damit einhergehenden Dokumentationsarbeiten lieferten bereits bekannte Ergebnisse: Die Existenz eines vormals die Kirche umgebenden Friedhofes war ebenso wenig überraschend wie untertägig erhaltene Reste der in den 1880ern abgetragenen Sakristei. Neue Erkenntnisse brachten nun Beobachtungen am romanischen Fundament des Kirchturmes, das ohne Zweifel mehrere ältere Bestattungen tangierte. Von besonderer Bedeutung war dabei das Grab einer laut der anthropologischen Untersuchung von Dr. Christian Meyer (OsteoARC, Goslar) im Alter von 50 – 80 Jahren verstorbenen Frau. Ihr Skelett wurde nicht nur vom Fundament geschnitten, auch war die Schädelkalotte mit verpresstem Fugenmörtel des Fundaments gefüllt. Diese Bestattung kann somit als ein deutliches Indiz dafür gewertet werden, dass am Standort der romanischen Kirche St. Andreas bereits vor 1160/80 ein Friedhof existierte. Somit darf hier – oder im unmittelbaren Umfeld – tatsächlich eine ältere, mit Pfarrrechten ausgestattete Kirche vermutet werden. Offen blieb aber weiterhin die Frage nach dem Alter des Kirchstandortes.

Glücklicherweise ließ genau diese Bestattung auch eine 14C-Datierung zu. Das Ergebnis der Untersuchung durch Dr. Susanne Lindauer (Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie gGmbH, Mannheim) erbrachte den Zeitraum cal AD 683-873. Damit datiert die Bestattung definitiv innerhalb eines Zeitrahmens, in den die auch erste Erwähnung Lübbeckes fällt.

Ältere, vom Fundament des Kirchturmes geschnittene Bestattungen. Beim unteren Skelett ist ein Teil des in die Schädelkalotte verpressten Fugenmörtels des romanischen Kirchturmfundamentes zu erkennen. Die Bestattung datiert cal AD 683-873. (Fotos: LWL-AfW/M. Thede)

Der exakte Standort des/der vor 1160/80 entstandenen Kirchengebäude(s) bleibt damit zwar weiterhin ebenso unbekannt, wie dies auch für die zugehörige Bauausführung in Form und Material gilt, jedoch sehen wir nun hinsichtlich deren grundsätzlicher Existenz klarer. Festzuhalten sind dank der archäologischen Untersuchung vor allem zwei wesentliche neue Schlussfolgerungen: Zum einen existierte in Lübbecke bereits vor der Mitte des 12. Jahrhunderts definitiv eine mit dem Bestattungsrecht ausgestattete Pfarrkirche, zum anderen darf der Kirchstandort auf Basis der Datierung des Skelettmaterials vor 873 als gesichert gelten. Ob es sich dabei ursprünglich um eine Eigenkirche handelte, die später zu einer Pfarrkirche umgewandelt wurde, oder ob es sich um eine Urpfarrei handelte, die erst vom Bistum Minden gegründet wurde, muss zunächst offenbleiben.

Der Befund ist aber darüber hinaus auch noch in einem anderen, größeren Zusammenhang wichtig. Wie Publikationsvorhaben der LWL-Archäologie für Westfalen bald zeigen werden, zeichnet sich der Zeitraum ab der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts in Ostwestfalen vor allem durch „Migration“ / Abwanderung und instabile Siedlungsverhältnisse aus. Ab der 2. Hälfte des 7. bis zum frühen 8. Jahrhundert ist in archäologischen Befunden jedoch zunehmend eine (Orts-)Konstanz von Siedlungen und Hofplätzen zu beobachten. Spätestens ab dem beginnenden 9. Jahrhundert erfolgte eine regelhafte Bestattung auf den entstehenden Kirchhöfen. Aber nicht nur das: Die genannte Konsolidierungsphase zeichnet sich außerdem durch eine Wiedernutzung überwiegend eisenzeitlicher Wallburgen in unmittelbarer Nähe zu den sich formierenden Siedlungskernräumen aus. Sie spiegeln in gewisser Weise auch die Elitenbildung wider. Offenkundig ist dabei ein enger Zusammenhang zwischen (ländlichen) frühmittelalterlichen Siedlungen und jenen Burganlagen. Für Lübbecke ist dieser Bezug über die Wiedernutzung der im Ursprung eisenzeitlichen Wallburg „Babilonie“ nachvollziehbar, welche auf Basis der Keramik im ausgehenden 8. bzw. (frühen) 9. Jahrhundert erfolgte.

Die nunmehr deutlicher gewordene „Entstehungsgeschichte“ Lübbeckes und die Ausstattung mit einer Pfarrkirche, welche sich mit dem Skelettfund nun deutlicher fassen und zeitlich einordnen lässt, ergänzt das im Entstehen begriffene Bild der genannten gesellschaftlichen Entwicklung der Karolingerzeit. Dies gilt auch im Abgleich mit anderen Beispielen gleicher Zeitstellung und deren äquivalente Nutzung des Siedlungsumfeldes.

Da die Sanierungsarbeiten an der Andreaskirche auch in den kommenden Jahren immer wieder mit Bodeneingriffen verbunden sein werden, bleibt zu hoffen, dass weitere Indizien hinzukommen, die das bislang entstandene Bild zusätzlich ergänzen. Dies gilt besonders für diejenigen Arbeiten, welche im Innenraum anvisiert sind und evtl. weitergehende Erkenntnisse zum älteren Vorgänger ergeben dürften.

(S. Spiong // M. Thede // K. Wegener)