Universalwerkzeug des Neandertalers – ein neues Keilmesser aus Salzkotten-Oberntudorf

27.10.2025 Eva Johannhörster

Ein absoluter Traumfund gelang dem passionierten Sammler Hermann Pongratz vor wenigen Monaten auf einem Acker oberhalb der Alme bei Salzkotten-Oberntudorf. Hier konnte er zum wiederholten Male ein Keilmesser aus dem Mittelpaläolithikum auflesen, das die Nutzung des Platzes durch den Neandertaler belegt.

Mit Akribie zum Erfolg

Eigentlich ist der unscheinbare Acker bei Salzkotten-Oberntudorf für sein jungneolithisches Erdwerk bekannt, dass von den Trägern der sogenannten Michelsberger Kultur vor etwa 4000 Jahren errichtet worden ist. Der ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger Hermann Pongratz aus Elsen verbringt hier seit nunmehr 30 Jahren regelmäßig seine freien Stunden, begeht systematisch und mit Akribie die Ackerfläche in Ostwestfalen und meldet die Funde im Nachgang bei der Außenstelle Bielefeld der LWL-Archäologie für Westfalen. Neben Artefakten aus der Zeit des Erdwerkes treten jedoch auch immer wieder Objekte zutage, die deutlich älter sind und aus einer Zeit stammen, als der Neandertaler auf der Nahrungssuche oberhalb der Alme sein Jagdlager aufschlug.

Karge Vegetation - Wildreichtum

Vor mehr als 100 000 Jahren sahen sich die Neandertaler am Ende der letzten Warmzeit mit widrigen Klimaveränderungen konfrontiert. In immer schnellerer Abfolge kam es zu deutlichen Schwankungen und schnellen Wechseln von gravierenden Kalt- und Warmphasen, die vor etwa 60 000 Jahren im ersten Kältemaximum gipfelten. Zuvor herrschte ein kühles, feuchtes Klima und die Vegetation wurde von Nadelwäldern dominiert – ähnlich der Wälder im heutigen Nordamerika. Hier lebten Waldelefanten, Riesenhirsche, Auerochsen, Wildschweine und Rehe, die ein üppiges Nahrungsangebot für die mittelpaläolithischen Jäger und Sammler darstellten. Mit der folgenden Kaltzeit veränderte sich jedoch die Landschaft drastisch: die Inlandgletscher reichten von der Küste bis in die Tiefebene; weiter südlich prägten offene, waldarme Tundren- und Steppengebiete mit niedrigen, flach wachsenden Pflanzen wie Gräser und Sträucher die Vegetation. Auch wenn die Landschaft karg war, war sie jedoch sehr wildreich. Kälteangepasste Tiere wie Mammute, Wollnashörner, Wildpferde, Steppenwisente oder Rentiere zogen zum Teil in großen Herden durch die weiten Grasflächen und wurden von den Neandertalern der Weichsel-Eiszeit bejagt.

Das gut erhaltene Keilmesser aus „Hälleflinta“ ist nur für das geübte Auge gut zu erkennen (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/Arne Koch).

Keilmesser – ein Universalwerkzeug des Neandertalers

Während seiner jahrzehntelangen Sammeltätigkeit auf dem Erdwerk von Salzkotten-Oberntudorf konnte Hermann Pongratz bereits zahlreiche mittelpaläolithische Artefakte, darunter auch einige Keilmesser, auflesen. Die meisten dieser Funde stammen vom Ende der 1990er Jahre, doch nun ist ihm vor wenigen Monaten der Fund eines weiteren Keilmessers auf der Fundstelle gelungen.

Keilmesser sind eine der Leitformen des Mittelpaläolithikums und waren insbesondere im sogenannten Micoquien (ca. 100 000–45 000 v. Chr.) in Gebrauch, um Häute, Felle oder Fleisch zu schneiden. Auffällig ist ihre Ähnlichkeit mit Faustkeilen, und tatsächlich sind sie auch in einigen Faustkeil-führenden Inventaren vertreten. Doch während Faustkeile meist symmetrisch sind und zwei schneidende Längskanten aufweisen, besitzen Keilmesser nur eine schneidende Kante. Die Schneide ist meist auf beiden Flächen retuschiert. Der scharfen Arbeitskante liegt ein stumpfer oder grob zugerichteter Rücken gegenüber. Ein weiterer prägnanter Unterschied ist die Artefaktgröße: so sind Keilmesser oft kleiner als Faustkeile und messen nur selten mehr als 150 mm in der Länge. Das Oberntudorfer Stück fügt sich mit einer Länge von 73 mm, einer Breite von 59 mm und einer Rückendicke von 18 mm gut in das bekannte Spektrum der mittelpaläolithischen Keilmesser ein.  Zudem besitzt das gut erhaltene Exemplar einen gestumpften Rücken und eine noch scharfe, gerade Schneide mit beidseitiger Flächenretusche. Das Besondere an dem Keilmesser ist das verwendete Rohmaterial: Der Neandertaler bediente sich nicht an dem in der Region vorkommenden, wenig attraktiven und kleinteiligen Feuerstein, sondern verwendete Dalarna-Ignimbrit – ein Milliarden Jahre altes Vulkangestein aus Mittelschweden, das ebenfalls mit den Gletschern während der Eiszeit bis nach Westfalen transportiert wurde. In Schweden wird dieses rötliche, graue bis braune Gestein auch als „Hälleflinta“, also „Felsenfeuerstein“, bezeichnet, da das scharfkantige Brechverhalten recht ähnlich zu jenem von Feuerstein ist. Von der Fundstelle in Oberntudorf liegen bereits etwa 200 mittelpaläolithische Artefakte aus Dalarna-Ignimbrit vor. Darunter sind neben Abschlägen und Kernen zwei weitere Keilmesser hervorzuheben, die bereits an anderer Stelle besprochen wurden.

Das neue Keilmesser aus Oberntudorf befindet sich derzeit in der Außenstelle Bielefeld der LWL-Archäologie für Westfalen, wo es nun fachgerecht fotografiert und gezeichnet wird. Anschließend wird das Objekt in Münster digital als 3D-Modell erfasst, um es auch online einer großen Öffentlichkeit präsentieren zu können.

Text: Alexandra Philippi